Soziale
Gerontologie

Verein zur Förderung der angewandten Gerontologie e.V. (VFG)

Praxis Gerontologie Wissenschaft Geschichte Gerontologie

Wissenschaft und Praxis – transnational und translational

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www.researchgate.net/publication/305985548
_Erfahrungen_mit_dem_Transnationalen_und_Translationalen

Wissenschaft und Praxis sind für sich keine homogenen Bereiche. Wissenschaft splittert sich auf in ihre Einzeldisziplinen, in jeweilige Institutionen der Forschung, Lehre und Ausbildung. Wissenschaft selbst ist bereits eine spezifische Form von Praxis, selbst wenn sie – wie die Grundlagenforschung – nicht notwendigerweise einen unmittelbaren Anwendungsbezug aufweist.

Praxis (griech.: Tun, Verrichten, Ausführen, Vollbringen) ist ein allumfassender Begriff. Jede(r) ist „Praktiker“ im eigenen Tätigkeitsfeld. Somit hat man es „in der Praxis“ nicht mit einer, sondern mit mehreren Praktikerinstanzen zu tun, die in Macht und Einfluß und in ihren Meinungen und Erwartungen divergieren. Eine Praktikertypologie müsste Politiker, Planer, Administratoren, Berufsgruppen verschiedenster Disziplinen, unmittelbar und mittelbar Betroffene differenzieren, also Personenkreise mit unterschiedlichsten Lebenslagen, Handlungszwängen und Nutzungsmöglichkeiten.

In der Sozialen Gerontologie stellt sich die Problematik der Anwendung und Anwendbarkeit in besonderer Hinsicht. Dies deswegen, weil Altern und Alter zu den Alltagserfahrungen und -diskursen der Menschen gehören und von einer Alternswissenschaft unmittelbar Beiträge zur Lösung der damit verbundenen Aufgaben und Probleme erwartet werden. Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis funktioniert allerdings nicht via einfacher Mittel-Zweck-Beziehungen, deshalb ist statt Anwendung besser von Verwendung zu sprechen. Sie erfolgt in ganz verschiedenen Handlungszusammenhängen (der Politik und Medien, der professionellen Ausbildung und Fortbildung, der Qualitätssicherung in den Einrichtungen), also in Kooperation oder in Auseinandersetzung mit anderen Interessensgruppen:  https://www.researchgate.net/publication/305991967_Wissenschaft_und_Praxis

Die Verwendung wissenschaftlicher Ergebnisse vollzieht sich über mehrere Vermittlungsinstanzen und in verschiedenen Handlungskontexten. Schon die ausdifferenzierte wissenschaftliche Methodik und Fachsprache erschwert eine direkte Umsetzung. Ergebnisse der interdisziplinären Wissenschaften des Alterns müssen „übersetzt“ werden. Im Bereich der Altenarbeit sind es die wissenschaftlich ausgebildeten Berufsgruppen (von akademisch weitergebildeten Pflegeberufen über Sozialarbeiter und -pädagogen bis hin zu den Absolvent/innen gerontologischer Aufbaustudiengänge), die sowohl einen direkten Praxisbezug als auch eine professionell geprägte Fachorientierung aufweisen und somit ein interessiertes, aber auch kritisches Zielpublikum sind.

Intervention ist ganz wesentlich mit Normen verbunden, deren Voraussetzungen im Menschenbild sich die in diesem Feld beteiligten Akteure nicht immer bewußt machen (z.B. eine unterschwellige Leistungsorientierung in den Ansätzen „erfolgreichen Alterns“ und aktivierender Altenpflege). Um so wichtiger wird der Begründungszusammenhang in einer anwendungsbezogenen Wissenschaft des Alterns.

In einem Konzept der „angewandten Gerontologie“ (Wahl/Tesch-Römer 2000) interagieren die Bereiche der Grundlagenforschung, der Bedürfnisse älterer Menschen und ihres sozialen Umfelds sowie gesellschaftliche Entwicklungen. Gerontologische Grundlagenforschung bezieht sich auf das Altern der Menschen und ist dabei mit den Anliegen dieser Menschen konfrontiert. Beide Dimensionen sind beeinflusst durch übergreifende gesellschaftliche Anforderungen. Aus diesen Wechselbeziehungen entstehen Themen und Praxen der Angewandten Gerontologie.

Eine besondere Herausforderung erfährt das Konzept der angewandten Gerontologie neben der kultursensiblen Altenpflege im Wissens- und Konzepttransfer zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen. Ein Beispiel dafür ist das Kasseler Demenzprojekt am Hohen Balkan (Karl/Arnold/Koundolev 2008).

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Am Beispiel dieses Projekts kann man nachvollziehen, dass man es bei der Translation mit mehreren Praktikerebenen zu tun hat. Die Projektdurchführenden, die Berufsgruppen verschiedenster Disziplinen, die bürgerschaftlich Engagierten sowie die Adressaten (Klienten, Patienten, Angehörige) selbst, sie alle folgen ihren eigenen Logiken und Verwendungen. Mehr dazu im Artikel „Intendierte und nicht intendierte Wirkungen beim Konzepttransfer am Beispiel eines Projekts in Bulgarien“, abrufbar unter https://www.researchgate.net/publication/340792511

Auch die Lernpartnerschaften im Erwachsenenbildungsbereich der Europäischen Union machen Chancen und Herausforderungen des „Transnationalen“ und „Translationalen“ deutlich. Die Projekte Unidos, eMotivate, CHANCE, Empowering the Elderly (siehe Rubrik „Projekte“) mit Partnern aus Spanien, Griechenland, Italien, Zypern, Ungarn, Rumänien, Niederlande öffneten den Blick über die eigene nationale Situation hinaus, auf die oft schlechteren materiellen Verhältnisse und Angebots- und Versorgungsstrukturen in anderen Ländern. Wenn Partner mit unterschiedlichem kulturellen und wirtschaftlichen Hintergrund sich auf eine Lernpartnerschaft einlassen, gilt es sowohl für das „Transnationale“ wie für das „Translationale“ gemeinsame Lösungen zu finden.

Transnationales

„Transnational“ bedeutet, über den Tellerrand der eigenen länderspezifischen Sichtweise hinauszugehen. Herausforderungen dabei betreffen zunächst die Sprachvielfalt. In der Europäischen Union sind mehr als zwanzig Amts- und Arbeitssprachen verzeichnet, es existiert eigens ein EU-Kommissar für Mehrsprachigkeit. Noch schwieriger wird es sprachlich in der Umsetzung der Projekte bei den Kontakten mit den älteren Kursteilnehmern vor Ort, besonders wenn sie der Zielgruppe der sozial benachteiligten Älteren angehören.

Altenbegegnungen in Europa unterscheiden sich, was die Möglichkeit betrifft, sich in einer Sprache zu verständigen, von den Austauschprogrammen und Begegnungen der heutigen jungen Erasmus-Studierenden in Europa. Jüngere Mitarbeiter in den Seniorenbildungsprojekten helfen, Sprachprobleme zu überwinden. Die intergenerativen Kontakte spielen auch inhaltlich bei den verschiedenen Bildungsthemen und im Erfahrungsaustausch zwischen „Jung“ und „Alt“ eine wichtige Rolle.

Auch bei den fachlichen Begrifflichkeiten ist Sorgfalt vonnöten. Zunächst geht jedes Teilnehmerland wie selbstverständlich vom eigenen Verständnis aus, z.B. beim Bildungsbegriff. Dieser reicht aber von „formaçion“ im Spanischen über „training“ im Englischen bis zum weit gefassten Humboldt'schen Bildungsbegriff in Deutschland. Eine ähnliche Diversität gilt für Termini zur Ehrenamtlichkeit bzw. Freiwilligenarbeit und den damit verbundenen unterschiedlichen Vorstellungen in den europäischen Ländern. So ist es durchaus möglich, dass in der jeweiligen Sicht- und Herangehensweise der Partner produktive Entdeckungen für die eigene Perspektive enthalten sind.

Die jeweiligen Sichtweisen bergen Folgen

  • für die Auswahl der konkreten Zielgruppe,
  • für die Entscheidung darüber, welche Bedarfe und Bedürfnisse mit dem Bildungsangebot aufgegriffen werden sollen sowie
  • für die Methodik (die Südeuropäer verstanden darunter in der Regel schulähnliche Frontalkurse, während die Mittel- und Nordeuropäer wie selbstverständlich ein teilnehmerzentriertes, partizipatives Lernen voraussetzen).

Translationales

Im Ringen um die Arbeitsverteilung zwischen Projektpartnern aus verschiedenen europäischen Ländern stößt man auf unterschiedliche Vorstellungen von Verbindlichkeiten und von „good practice“. Interessen sind mitzubedenken bei der Dissemination von Ergebnissen. Es geht den Kooperationspartnern auch um ihr professionelles Ansehen, um die persönliche Beteiligung an auch öffentlich beachteten Innovationen und Konzepten.  Es macht einen Unterschied, mit welcher Art von Abnehmern der Ergebnisse (Politiker, Planer, Berufsgruppen verschiedenster Disziplinen, unmittelbar und mittelbar Betroffene) man es zu tun hat, denn sie divergieren in Macht und Einfluss und in ihren Erwartungen.

Dies ist sehr deutlich zu spüren bei den Bemühungen, Nachhaltigkeit zu verankern. In Partnerstädten wurden mit den Bürgermeistern Gespräche geführt, Anschlussfinanzierungen für Begegnungs- und Kursangebote durch kommunale Mittel zu erreichen. Auch hier muss die „Perspektive des anderen“ mit bedacht werden, um die Eigeninteressen der Politik kompatibel mit den zu verstetigenden Bildungsangeboten zu machen.

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     Die Projektpartner bei Bürgermeistern: Vera (Spanien) und Kazanlak (Bulgarien)

 

Was ist aus den europäischen Partnerschaftsprogrammen zu lernen? Vor allem eine wachsende Sensibilität dafür,

  • auf Mehrperspektivität zu achten, das Betrachten eines Gegenstands von verschiedenen Seiten,
  • sich in den anderen hineinzuversetzen statt der „effizienten“ Durchsetzung der Konzepte eines Landes,
  • also Erkenntnisgewinne im wechselseitigen Ausloten des kulturellen Kontextes der Anderen zu erreichen,
  • und auf diesem Weg in der Praxis zu Ergebnissen zu kommen, die sich übergreifend alle Projektpartner als erreichten Erfolg auf die Fahne schreiben können und mit denen sie auch weiterhin in ihrem Land und vor Ort weiter arbeiten können.

Gelingt dies, so sind die Umsetzungen in den Teilnehmerländern innovativ. Die dokumentierten Projektergebnisse mit ihren Handlungsanleitungen sollten dann nicht nur unmittelbar methodisch hilfreich und anwendbar sein, sondern auch für die Dissemination im jeweiligen Partnerland gute Voraussetzungen für Nachhaltigkeit bieten.

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Literatur

Friedrich, I., Karl, F.  (Hrsg.) (2007): Europäische Seniorenprojekte im lebenslangen Lernen. Kasseler Gerontologische Schriften Bd. 41. Kassel

Karl, F., Arnold, R., Koundolev, St. (2008): Das Demenz-Projekt am Hohen Balkan. Auszüge aus dem Abschlussbericht „Arbeit mit dementiell Erkrankten in Kazanlak“. Kasseler Gerontologische Schriften Bd. 47. Kassel

Karl, F. (2016b): Überwindung institutioneller Barrieren beim Freiwilligenengagement. In: Hoben, M., Bär, M., Wahl, H.-W. (Hrsg.): Implementierungswissenschaft für Pflege und Gerontologie. Grundlagen, Forschung und Anwendung – ein Handbuch. Stuttgart: Kohlhammer, S. 342-350

Karl, F. (ed.) (2018): Ageing in the Crisis – Experiences from Greece. Wien Zürich Münster: LIT

Wahl, H.-W., Tesch-Römer (Hrsg.) (2000): Angewandte Gerontologie in Schlüsselbegriffen. Stuttgart: Kohlhammer

 

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