Soziale
Gerontologie

Verein zur Förderung der angewandten Gerontologie e.V. (VFG)

Praxis Gerontologie Wissenschaft Geschichte Gerontologie

Eine Geschichte der Sozialen Gerontologie in Kassel

Eine Geschichte der Sozialen Gerontologie in Deutschland ist abrufbar unter

www.researchgate.net/publication/305991648_Gerontologie
_und_Soziale_Gerontologie_in_Deutschland

Die Kasseler Soziale Gerontologie ist im deutschsprachigen Bereich in vielfacher Hinsicht ein Vorreiter: mit der ersten interdisziplinären Forschergruppe für angewandte Gerontologie, der ersten Universitätsprofessur für Soziale Gerontologie, dem ersten berufsbegleitenden Aufbaustudiengang und dem stetigen Bemühen, Theorie und Praxis zu verschränken.

Kassel hatte in Deutschland neben West-Berlin den höchsten Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung und forderte dadurch – viel früher als in anderen Regionen und Bundesländern – Antworten zum Umgang mit dem in der Öffentlichkeit noch nicht thematisierten „demographischen Wandel“ heraus. So gab es in Kassel 1962 den ersten „Bundeskongress der älteren Generation“, darauf folgend schon eine Alten-Begegnungsstätte, einen kommunalen Seniorenbeirat und einen eigenen Fachbereich für Seniorenbildung in der Volkshochschule.

Die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe für angewandte Soziale Gerontologie

Im Jahre 1975 wurde der Mediziner und Psychiater Hartmut Radebold auf eine Professur für Klinische Psychologie an den Fachbereich Sozialwesen der Gesamthochschule Kassel berufen. Radebold initiierte im Projektstudium des Grundständigen Studiengangs Soziale Arbeit das Praxisprojekt „Ambulante Arbeit mit Älteren“ und konnte so in einer Zeit, als der Gegenstand „Alter“ an Hochschulen noch unterrepräsentiert war, bereits einen Kreis Studierender für das Thema interessieren. Anlässlich der Erarbeitung des „Entwicklungsplans Ältere Menschen in Kassel“, einem der ersten unter den kommunalen Altenplänen in der Bundesrepublik, wurden weitere Kolleg/innen für die Altersthematik gewonnen. Schließlich konnte 1978 die "Interdisziplinäre Arbeitsgruppe für angewandte Soziale Gerontologie" (ASG) zusammen mit Soziologen, Pädagogen, Psychologen und einem Rechtswissenschaftler gegründet werden. Einem Beirat gehörten Vertreter anderer Hochschulen aus dem ganzen Bundesgebiet und von Einrichtungen der kommunalen und regionalen Praxis an.  Andere interdisziplinäre, gerontologische Arbeitsgruppen gab es zu dieser Zeit an deutschen Hochschulen noch nicht. Die über Zeitverträge angestellten Mitarbeiter/innen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe – vor allem Angelika Trilling, Maren Bracker und Klaus Ostermann – waren in der Drittmitteleinwerbung von Anfang an sehr erfolgreich.

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Der Campus der Universität Kassel am Holländischen Platz

So hat die Kasseler Angewandte Soziale Gerontologie große Forschungsprojekte zur stationären und ambulanten Rehabilitation bei über 60jährigen Schlaganfallpatienten (Ostermann et al 1984) durchgeführt. Nach der Teilnahme an der Begleitforschung für das Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung (mit dem Schwerpunkt Gerontopsychiatrie in der Region Kassel; Bracker/Korte/Middeke 1988) erfolgten Studien zur ambulanten psychiatrischen Versorgung durch Sozialstationen, zur Analyse sozialer Arbeitsfelder von Sozialarbeitern und Krankenschwestern/pfleger bei psychisch kranken, zu Hause lebenden alten Menschen und zur Gerontopsychiatrischen Weiterbildung. Das von Radebold und Grunow geleitete DFG-Projekt „Lebensverhältnisse und Nutzungsverhalten älterer Menschen in einer ländlichen Region“ war Teil eines internationalen Verbundes „Age Care Research Europe“.

Aufbaustudiengang Soziale Gerontologie und partizipationsorientierte Forschung

Radebold setzte neben der Einrichtung eines Aufbaustudiengangs Soziale Gerontologie die Bereitstellung einer Professur für Soziale Gerontologie durch. Zum WS 82/83 nahm Reinhard Schmitz-Scherzer (ein Mitarbeiter von Ursula Lehr vom Bonner Institut für Psychologie) den an ihn ergangenen Ruf an.

Schmitz-Scherzer thematisierte zunächst den Bezug von Ausbildung und Praxis, indem er 1985 eine Tagung zur Professionalisierung in der Altenarbeit und Altenpflege seitens der Sektionen „Psychologie und Sozialwissenschaften“ und „Altenarbeit/Altenhilfe“ der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie nach Kassel holte. Der Tagungsband setzte den Auftakt für die von Schmitz-Scherzer, Radebold und Tokarski herausgegebenen Kasseler Gerontologischen Schriften mit 50 Bänden (ab 1999 hrg. von Birgit Jansen und Fred Karl).

Kassel war auch der Tagungsort, an dem die deutsche Alternswissenschaft kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen in der nachwachsenden Altenpopulation aufgriff. Auf Vorschlag von Radebold und Schmitz-Scherzer setzte sich 1988 der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie mit dem Phänomen der „neuen Alten“ auseinander.

 www.researchgate.net/publication/305992060_Das_Altern_der_neuen_Alten_

Eine_Generation_im_Strukturwandel_des_Alters

 

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Radebold und Schmitz-Scherzer am Podium bei der Präsentation von Projekten der ASG auf dem DGG-Kongress 1988

Auf diesem Kongress konnte die Kasseler Soziale Gerontologie ihre angewandten Forschungsprojekte zur Diskussion stellen. Radebold resümierte: „Der multidisziplinäre Ansatz, Praxisorientierung und Praxisrelevanz sowie die enge Kooperation zwischen Hochschule und Praxis haben sich als entscheidende Determinanten unserer Forschungsarbeit erwiesen“ (Radebold/Karl 1989). Schmitz-Scherzer: „Wir wollen zum Dialog zwischen Vertretern der Praxis und der Politik einerseits und Vertretern der Wissenschaft andererseits beitragen und Grundlagen sowohl für die praktische Arbeit als auch für politische Entscheidungen liefern. Dies schließt Grundlagenforschung natürlich nicht aus.“ (Schmitz-Scherzer 1989).

In Kasseler Forschungsprojekten waren die älteren Menschen nicht nur 'Datenlieferanten', wie sonst in vielen gerontologischen Studien, sondern Gesprächspartner, was sich – wie im Modellprojekt „Zugehende stadtteilorientierte Beratung älterer Menschen“ (Karl et al 1989) – auch im Einsatz qualitativer Methoden (narrative Interviews, teilnehende Beobachtung, Gruppendiskussion) der Sozialforschung zeigte.

Eine weitere typisch Kasseler Vorgehensweise wurde mit dem Prozess partizipativer Altenplanung in der Stadt Baunatal vorgelegt. Um zu vermeiden, dass ein Altenplan – wie in manchen Kommunen geschehen – nur als „Legitimationspapier“ verabschiedet wird, bedurfte es nachhaltiger Planungsverläufe, die prozessorientiert, realitäts- und umsetzungsorientiert sowie kommunikationsorientiert angelegt waren (Bialke/Breitenstein 1994).

Ein dialogisches Konzept drückte sich auch in der spezifischen Struktur des berufsbegleitenden, in Blockwochen organisierten Aufbaustudiengangs Soziale Gerontologie in Kassel aus. Was auf der einen Seite wissenschaftliches Denken und Arbeiten für die praktische Tätigkeit in den Arbeitsfeldern der Altenhilfe leisten kann, welche Bedeutung auf der anderen Seite pragmatisch gewonnenes und bewährtes Wissen bei der Interpretation von Forschungsergebnissen hat, war immer wiederkehrendes Thema der Seminare.

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Semesterhefte als „Vorlesungsverzeichnisse“

Dabei war es bald selbstverständlich, dass mit ihrer Expertise auch Absolvent/innen zu Lehrbeauftragten im Kasseler Aufbaustudiengang wurden. Jedenfalls war das Lehrangebot nicht Teil eines verschulten Curriculums, das mit Leistungsnachweisen abzuarbeiten war, sondern ein laufender „Herstellungsprozess“, (Jansen/Friedrich 1995), an dem sich die Studierenden beteiligten. Über 300 berufsbegleitend Studierende nahmen zwischen 1983 und 2005 an diesem Studiengang teil. Ihr Wirken in der beruflichen Praxis als Diplom-Sozialgerontolog/innen ist beeindruckend (siehe die Rubrik „Praxis der Sozialen Gerontologie“).

Die Erfahrungen aus Lehre, Forschung und Anwendungsfeldern flossen in die Konzeption und Architektur des Handbuches „Soziale Gerontologie für Lehre und Praxis“ (Jansen/Karl/Radebold/Schmitz-Scherzer 1999) ein, das gedruckt vorlag, als Hartmut Radebold und Reinhard Schmitz-Scherzer in den Ruhestand gingen. Das 800-seitige Handbuch dokumentiert Beiträge aus 20 Einzeldisziplinen von der Sozialanthropologie bis zur Thanatologie. Für ein abschließendes Diskussionskapitel kommentierten Wissenschaftler und Praktiker, die nicht schon Autoren des Buches waren, die bisherige Bilanz als auch zukünftige Anforderungen an die Soziale Gerontologie im nationalen und internationalen Maßstab.

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Hartmut Radebold, Fred Karl, Ingrid Friedrich, Birgit Jansen und Reinhard Schmitz-Scherzer

Von außen gesehen wird die Kasseler Soziale Gerontologie wie folgt resümiert: „Betrachtet man die Tagungen, Themen, Veröffentlichtlichungen und Diskurse, so wie sie in Kassel stattfinden, dann hat man den Eindruck, dass hier Mut zum Betreten von Neuland vorhanden ist, dass Utopien und Visionen angedacht werden, also nach vorne gedacht wird, aber auch durchaus in die Hinterzimmer einer problematischen Vergangenheitsbewältigung geguckt wird – eben Kasseler Gerontologie als Herausforderung für das Selbstverständnis des Faches Gerontologie“ (Fooken 1998, S. 169).

Eine ausführlichere Beschreibung der ersten zwei Jahrzehnte (bis 1999) der Kasseler Sozialen Gerontologie ist nachzulesen im Beitrag „Eine Geschichte der Sozialen Gerontologie mit Reinhard Schmitz-Scherzer“ im Buch „Soziale Gerontologie – Theorie und Praxis“ und unter

https://www.researchgate.net/publication/329044518
_Eine_Geschichte_der_Sozialen_Gerontologie

 

Soziale Gerontologie, und Soziale Arbeit mit älteren Menschen

Die Neubesetzungen der Kasseler Professuren mit Gertrud Backes (bis 2006) und Fred Karl (bis 2012) waren auf das Themenspektrum der Sozialen Gerontologie und Sozialen Arbeit mit älteren Menschen ausgerichtet. Bundesweit brachte sich Kassel verstärkt in die Vernetzung soziologischer und gerontologischer Alternsforschung ein: Gertrud Backes organisierte mit Wofgang Clemens langjährig die Tagungen der Sektion Alternssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Fred Karl war Vorsitzender der Gesellschaft für sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie und damit Mitglied im Vorstand in der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie. Ihre Publikationen „Lebensphase Alter“ (Backes/Clemens 1998; 2003), „Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie“ (Karl 2003) sowie die „Einführung in die Generationen- und Altenarbeit“ (Karl 2009) reihen sich in die Standardwerke der deutschen Gerontologie ein.

Die Kasseler partizipative Altenplanung erfuhr weitere Umsetzungen in zwei Kommunen Nord- und Südhessens, jeweils basierend auf repräsentativen Bedürfniserhebungen bei mehr als 500 älteren Menschen in diesen mittelgroßen Gemeinden. Der Schwerpunkt der Studie „Älterwerden in der Gemeinde“ in Schauenburg lag auf der Nachkriegsgeneration und der „Baby-Boomer-Generation“ mit ihren jeweiligen Lebensstilmustern und Zukunftsvorstellungen zum Wohnen, gemeinschaftlichen Aktivitäten und familiären Hilfsleistungen (Aner/Karl 2006). Ein besonderes Augenmerk galt den Vereinigungen, Vereinen, Einrichtungen und Diensten, die das soziale Leben in der Gemeinde tragen. Aus moderierten Arbeitskreisen zu den Themen „Generationen und Orte der Begegnung“, „Generationen und Pflege“ sowie „Generationen und Wohnen“ entstand der „Initiativkreis Älterwerden in Schauenburg“, der über das Forschungsprojekt hinaus aktiv blieb. Im Rahmen der Altenhilfeplanung der Gemeinde Eschborn im Main-Taunus-Kreis werteten  die Kasseler Forscher die Seniorenbefragung 65plus (n = 784) aus und präsentierte die Ergebnisse und Handlungsanregungen vor Ort. Die Auswertung liefert empirische Belege für das Wirken des „interventionsgerontologischen Dilemmas“. Es drückt sich z.B. im überdurchschnittlichen Interesse an mobilen Diensten in den „gut situierten“ Stadtteilen aus und weist darauf hin, dass  Angebote und Maßnahmen eher von informierten, artikulationsfähigen Bevölkerungsteile und seltener von benachteiligten Gruppen in Anspruch genommen werden (Karl/Haase 2007).

 

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Die Bürgermeister der Gemeinde Schauenburg mit Fred Karl und Kirsten Aner bei der öffentlichen Vorstellung der Studie „Älterwerden in Schauenburg“

Dass selbst gut gebildete, aktive ältere Menschen angesichts mangelnder Öffnung von Institutionen zugunsten von Bürgerengagement Schwierigkeiten haben, ihre Partizipationsideen einzubringen, wurde im „SeniorTrainer“-Modellprojekt des Bundesfamilienministeriums deutlich. Der Forschungsauftrag, diese Hemmnisse zu untersuchen, wurde nach Kassel gegeben. Aus den qualitativen Interviews mit den interessierten Älteren, Vertretern von Freiwilligenagenturen und von Institutionen sowie zusammenführenden Gruppendiskussion entstand ein Praxisbuch zur kooperativen Entwicklung von Projekten (Karl/ Aner/ Bettmer/Olbermann 2008). https://www.researchgate.net/publication/312154005
_Perspektiven_einer_neuen_Engagementkultur

International wurden Kasseler Erfahrungen bereits in den 1990er Jahren beim Aufbau gerontologischer Institute und Studiengänge in Granada (Spanien), Santiago de Chile und Porto Alegre (Brasilien) durch Schmitz-Scherzer eingebracht. Karl folgte als Gastprofessor am postgradualen Studiengang Soziale Gerontologie der Universität Porto Alegre.

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Postgradualer Seminarzyklus „Gerontologia Social“ in Porto Alegre

Weitere Kontakte mündeten in das Buch „Alter und Altern in Russland“ (Karl/Krasnova 2001) sowie in mehrere EU-Erwachsenen- und Altenbildungsprojekte mit italienischen, spanischen, griechischen, zypriotischen, ungarischen, rumänischen und niederländischen Partnern. Eine besondere Herausforderung stellten zwei Transferprojekte zum Thema „Umgang mit Demenz“ und Freiwilligenarbeit in Alteneinrichtungen in Bulgarien dar (siehe Rubrik „Wissenschaft und Praxis - Transnational und translational“).

Mit Wissenschaftlern und einer NGO in Griechenland erfolgte eine Situationsanalyse zum Altern in einem von der globalen Finanzkrise besonders betroffenen europäischen Land (Karl 2018).

https://www.researchgate.net/publication/332513777_Ageing_in_Greece_in
_times_of_crisis_-_Presentation_in_the_University_of_Crete_April_4_2019

Lebenslagen und Altern

Seit 2012 hat Kirsten Aner an der Universität Kassel die Professur für „Lebenslagen und Altern“ inne. Sie  setzt eigene Akzente mit der Gründung des Arbeitskreises Kritische Gerontologie in der DGGG und der Durchführung jährlicher Arbeitstagungen. Kirsten Aner wirkte langjährig als Vorsitzende der Sektion IV (Soziale Gerontologie und Altenarbeit) der DGGG und als Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie. Sie gehört dem Herausgeberkreis der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie sowie weiterer Fachzeitschriften an.

 

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Cornelia Kricheldorff (Absolventin des Kasseler Aufbaustudiengangs Soziale Gerontologie; seit 2002 Professorin für Soziale Gerontologie an der KH Freiburg) und Kirsten Aner bei der Verleihung des Großen Forscherpreises der DGGG 2016

Neben vielen anderen Veröffentlichungen stellen die Publikationen „Kritische Gerontologie – Eine theorie- und anwendungsorientierte Einführung“ (Aner/Schroeter 2020) sowie das „Handbuch Soziale Arbeit und Alter“ (Aner/Karl U. 2010, 2020) weitere Meilensteine in der Verbindung von grundlagenorientierter Theorie und Umsetzung in der Praxis dar.

Weitere Informationen siehe 

https://www.uni-kassel.de/fb01/institute/sozialwesen/fachgebiete/lebenslagen-und-altern/prof-dr-kirsten-aner.html

 

 

Ausgewählte Publikation der Kasseler Sozialen Gerontologie:

 

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